Das Hamburger Hafenkonzert
Die älteste Live - Radio Sendung der Welt



von Thorsten Totzke

Am 16 Januar 1924 wurde in Hamburg die Nordische Rundfunk AG (NORAG) gegründet.

"Als Gegenstand des Unternehmens" wurde angegeben: "Die Veranstaltung und drahtlose Verbreitung von Vorträgen, Nachrichten und Darbieten künstlerischen, belehrenden, unterhaltenden sowie sonst weitere Kreise der Bevölkerung interessierenden Inhalts in Hamburg und weiterem Umkreis."

Für ein eigenes Funkhaus fehlte noch das Geld und so begnügte man sich in den ersten Jahren mit ein paar Räumen in der Binderstraße in Hamburg.
Für den Aufbau des Programms stellte man Hans Bodenstedt ein, der später zum Intendandanten (Leiter) der NORAG wurde. Am 2 Mai 1924 schlug Hans Bodenstedt gegen ein Weinglas und eröffnete damit den Sendebetrieb der NORAG.

Zu Beginn gab es 896 zahlende Zuhörer, denen täglich ein Programm von 6-8 Stunden angeboten wurde.Fünf Jahre nach dem Beginn war die NORAG aus der Phase des Experimentierens raus. Die Zuhörerzahlen hatten sich kontinuierlich gesteigert, so daß man 1929 schon knapp 470.000 zahlende Hörer hatte. Dadurch waren die Finanzen des Senders, der 1928 in die Rothenbaumchaussee umgezogen war, soweit gesichert, daß man sich über neue Formen von Hörfunksendungen Gedanken machen konnte.

"Schaffen Sie etwas ganz Neues, eine Sendung, die nach Teer und Tang riecht, eine Sendung, in der die See zu den Hörern spricht, die See und die Männer, die sich ihr verschrieben haben. Nutzen Sie alle Möglichkeiten, die ihnen die Technik bietet. Stellen Sie die Technik vor neue Probleme. Kurz und gut: Schaffen Sie eine einmalige Sendung für den frühen Sonntagmorgen."

Das war der Auftrag, den Hans Bodenstedt seinem seemännischem Mitarbeiter Kurt Esmarch Mitte Mai 1929 gab. Dieser zog sich einige Tage zurück und tauchte schließlich mit einem Konzept wieder auf. Sein Konzept sah eine Sendung vor, die überwiegend aus Musik bestehen sollte und nebenher über die Christliche Seefahrt berichten sollte. Das ganze sollte am besten von einem Schiff im Hamburger Hafen gesendet werden. Auch den Titel hatte Esmarch schon im Kopf "Hamburger Hafenkonzert"


Ankündigung des ersten Hamburger Hafenkonzert
NDR/Archiv

Der NORAG Intendant war schnell überzeugt. Andere waren nicht so vorausschauend. Als Esmarch bei der Hamburg-Amerika Linie nachfragte, ob er einen Hapag - Dampfer für die erste Sendung bekommen könne, wurde dieser Antrag abgelehnt. Also ging er zur "Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrtsgesellschaft", wo ihm die Manager erklärten, daß er mit dem Hafenkonzert jederzeit herzlich Willkommen ist auf den Dampfern der Hamburg-Süd.

So kam es, daß am 9. Juni 1929 das erste Hafenkonzert von Bord des Hamburg-Süd Dampfers Antonio Delfino übertragen wurde. Ein Volltreffer wurde die Sendung allerdings noch nicht. Man hatte das Altonaer Symphonieorchester engagiert, aber leider hatte man nur ein einziges Mikrofon, welches sich die Musiker mit dem Moderator teilen mußten. Dadurch dürfte das Ganze ziemlich mager geklungen haben.

Am folgenden Sonntag, dem 16. Juni 1929, wurde das zweite Hafenkonzert Live von der Cap Polonio gesendet. Die Techniker versuchten jetzt mit einer Zeltplane, die sie über das Schiffsdeck spannten, die Streicher etwas besser klingen zu lassen. Als dies bei den Hörern auch noch nicht ankam, beschloß man, zukünftig nur noch Blasorchester zu präsentieren.

Nachdem sich herumgesprochen hatte wie sich die Hörer für diese Sendung begeisterten, legten auch die anderen Reedereien ihre Skepsis ab und in Zukunft war das Hafenkonzert auf vielen großen Ozeandampfern zu Gast. Die Liste der Schiffe von denen das Hafenkonzert gesendet wurde ist schier endlos. Hier nur eine kleine Auswahl: Monte Sarmiento, Deutschland, Monte Olivia, Albert Ballin, New York, Columbus , Bremen, Monte Rosa, Europa und natürlich die Cap Arcona

Damals wurde anders als heute auch die Musik von Bord des Dampfers gesendet. Dadurch war es natürlich nicht möglich, die Sendung als öffentliche Veranstaltung durchzuführen. So blieb es immer eine besondere Auszeichnung, wenn Kurt Esmarch den einen oder anderen Hörer, der sich darum beworben hatte, zu einer Sendung einlud.

Die Macher des Hafenkonzert wollten dann auch ein unverwechselbares Erkennungszeichen für ihre Sendung haben. So entstand die Idee, die Sendung mit den Glocken des Michel im wahrsten Sinne des Wortes einzuläuten. Das einzige Problem war, daß man damals noch keine Aufzeichnungstechniken wie Tonbänder hatte. Also wurde ein Mikrofon in den Glockenturm des Michels gehängt und die Glocken wurde volle 5 Minuten Live gesendet. Kirchenglocken brauchen allerdings bevor sie ihren schönen Klang entfalten eine Anlaufzeit. Dieses Einläuten dauert etwa zehn Minuten und ebenso lange dauert es auch bis sie wieder ausgeläutet sind. Das sind 25 Minuten Glockenläuten Sonntag morgen um 7 Uhr. Das war für die Anwohner rund um den Michel zu viel. Es hagelte Beschwerdebriefe, die sich noch verstärkten, als die NORAG nach drei Wochen beschloß, die Sendung schon eine Stunde früher beginnen zu lassen. Zu dieser Zeit wird das Hafenkonzert noch heute gesendet. Die Anwohner haben ihre Ruhe wieder seit es möglich war, die Glocken auf Schallplatte zu verewigen.

Kurt Esmarch war ein verschlossener Mensch und für Außenstehende nur schwer zugänglich. Wenn Zuschauer um ihn herumstanden sprach er leise, flüsterte fast in das Mikrofon. Er schaute auch nie einem der Gäste ins Gesicht und wenn er sich nicht abwenden konnte, sprach er mit geschlossenen Augen.


Der Mann der ersten Stunde: Kurt Esmarch an Bord der Watussi 1934
NDR/Archiv

Die Sätze, die er sich für den Beginn jeder seiner Sendungen erdacht hatte, kennen heute noch viele ältere Zuhörer:

"Liebe Hörerinnen und Hörer!
Wir grüßen sie alle in nah und fern,
in Stadt und Land, in Nord und Süd, in Ost und West,
an der See und auf der See, diesseits und jenseits des Äquators.
Wir grüßen alle Hörer im In- und Ausland,
un all uns leeven plattdüütschen Landslüüt binnen un buten.“

35 Jahre lang hat dieser Mann diese Begrüßung kaum verändert. Sie war ein Ritual, das zu jeder seiner Sendungen gehörte. Sein letztes Hafenkonzert sendete Kurt Esmarch am 1. März 1964 von der Davidswache auf St. Pauli in Hamburg. Er genoß seinen Ruhestand dann bis er 1981 im Alter von 86 Jahren starb..

Kurt Esmarch hätte sich nie in einem Konzertsaal vor Publikum gestellt, solche Auftritte überließ er seinem zweiten Mann Karl Herbert oder auch "Käpp`n Herbert" wie seine Hörer ihn respektvoll nannten. Seine Freunde indes durften ihn "die wandelnde Bruttoregistertonne" nennen in Anspielung auf seine bemerkenswerte Körperfülle.

"Käpp`n Herbert hatte seinen ganz eigenen Weckruf mit dem er seine Hörer bei jeder Sendung begrüßte:

"Wachet auf ihr Schläfer, groß und klein
Es wacht schon längst der Kapitein
Er ruft Euch "guten Morgen" zu
Wacht auf, wacht auf, aus Eurer Ruh.
Reise Reise,
jeder weckt den Nebenmann.
Der letzte stößt sich selber an."

"Käpp`n Herbert zeichnete sich durch eine angesichts seines Leibesumfangs überraschende Wendigkeit aus, die ihn in die Lage versetzte, behende, wenn auch laut prustend, eine Jakobsleiter hochzuklettern oder in das Rigg von Großseglern zu klettern. Genauso beeindruckend war sein Gedächtnis für Ereignisse, Daten, Namen und Zusammenhänge der Seefahrt. Karl Herbert steckte voller lustiger Geschichten, die er ohne zu überlegen aus dem Ärmel schütteln konnte. Gerade bei einer Live Sendung, in der es immer mal Löcher zu stopfen gab, eine wunderbare Gabe.

Er fühlte sich auch für den Ablauf der Sendung verantwortlich. Er trug vor dem Bauch einen an einer langen Kordel herumbaumelnden riesigen Wecker, mit dem er herumfuchtelte, wenn Esmarch seine geplante Zeit überzog. Käpp`n Herbert war wie viele andere vom Hafenkonzert Team alles andere als ein Abstinenzler. Man traf sich meistens schon am Samstag vor der Sendung zu fröhlichem Umtrunk, zechte dann meist bis weit in die Nacht hinein und wärmte sich auch vor und während der Sendung an. Käpp`n Herbert starb so wie er es sich möglicherweise gewünscht hat. Im Oktober 1938 ließ er sich nach der Sendung in sein Stammlokal Op`n Bull`n fahren. Dort hat sein Herz aufgehört zu schlagen.

Spaß gehörte damals immer zur Sendung. So gab es Anfang der 30er Jahre eine Sendung, die auf den 1. April fiel. Eine einmalige Gelegenheit, die Hörer mit feingesponnenen Seemansgarn in den April zu schicken..

Kurt Esmarch startete die Anmoderation:
"Liebe Hörer, wir erhielten die Nachricht das im Hamburger Hafen ein großer Walfisch angetrieben ist. Wir haben sofort unseren Berichterstatter zur Strandungsstelle hingeschickt. Er hat sich soeben gemeldet. Achtung wir schalten um zum Hamburger Hafen."


Die zweite Sendung wurde von der Cap Polonio ausgestrahlt
Sammlung Thorsten Totzke

Der Reporter Hans Günther übernahm sofort
"Wir melden uns von der Tollerortspitze. Nicht weit von uns entfernt ragt aus dem Wasser der mächtige Kadaver eines Wals, der vor etwa zwei Stunden an dieser Stelle strandete. Da der riesenhafte Körper, mitten im Fahrwasser liegend, natürlich ein Schiffahrtshindernis bildet, hat die Strom- und Hafenbauverwaltung sich entschlossen, den gewaltigen Tierkörper kurzerhand zu sprengen. Alle Vorbereitungen sind schon getroffen. Die Dynamit Ladung ist bereits im toten Körper des Tieres untergebracht. Wir warten jetzt auf den Augenblick, da der Sprengmeister die Leitung kurzschließt und so die Explosion entzündet. Meister wie lange kann es wohl noch dauern?"

Jetzt kam der zweite Reporter Kalli ins Spiel:
"Heuchstens noch twee oder dree Minuten. Den Dynamit hebbt wi jo all in`n Buk vun Walfisch rinpuhlt. Wenn mien Macker de Leitung klar hett, denn kann dat losgahn."

Jetzt folgte ein äußerst fachkundiges Gespräch über die Reißfestigkeit einer Wal-Speckschicht und die daraus resultierende Berechnung der Sprengladung. Die Regie brauchte diese Zeit um eine entsprechende Geräuschplatte aufzulegen und um eine Kindertrompete bereit zu legen, den jeder weiß keine Sprengung ohne Signal vorweg. 

Alles klappte wunderbar. Signal, Kommandos des Sprengmeisters, Bestätigung des Assistenten, die Explosion und die auf der Platte konservierten Geräusche umherfliegender und niedergehender Teile eines zehn Tonnen schweren Kolosses,

Dann eine Pause

Mit gespielter Verwirrung und vor Erregung zitternder Stimme wurde verkündet
"Meine Damen und Herren, liebe Hörer, ein unerwarteter Zwischenfall, den wir uns noch nicht erklären können.....hat unsere Übertragung vom Hamburger Hafen vorzeitig unterbrochen. Es scheint als hätten Sprengstücke des Walkörpers unsere Leitung durchschlagen. Ob unser Berichterstatter bei dem Vorfall verletzt worden ist, können wir noch nicht feststellen; denn es ist uns noch nicht gelungen, mit unserer Übertragungsstelle telefonische Verbindung zu bekommen. Wir werden sie auf dem laufenden halten."

Alle beteiligten rieben sich die Hände und zogen sich zu einem April-April-Umtrunk zurück.

Aber die Sache hatte ein Nachspiel mit dem niemand gerechnet hat. Es meldete sich die Polizei der zuständigen Wache am Tollerort, die von der Sprengung noch gar nichts gemerkt hatte. Die Polizisten waren in hektische Aktivität ausgebrochen als Hunderte Schaulustiger zum Explosionsort pilgerten, um den gesprengten Walfisch oder zumindest Teile davon zu sehen. Sehr humorvoll sollen die Polizisten auf die Störung ihrer Sonntagsruhe nicht reagiert haben.

Ein bisschen Seemansgarn gehörte beim Hamburger Hafenkonzert immer dazu. Die Gründernation konnte es sich leisten, was man den Moderatoren heutzutage wohl übel nehmen würde.


Auch von der Cap Arcona wurde das Hafenkonzert gesendet
Sammlung Thorsten Totzke

Am 1. Februar 1933 mußte die NORAG ihren Namen ändern. Sie hieß vorübergehend Norddeutsche Rundfunk GmbH Hamburg bis ein Jahr später alle Programme zentralisiert wurden und sie sich dann Reichssender Hamburg nennen mußte.

Am Anfang des Krieges wurde das Hafenkonzert weiterhin Live gesendet. Später mußte man auf Bandaufnahmen zurückgreifen. Nach dem Ende des Krieges sah es schlecht aus für das Hamburger Hafenkonzert. Es gab keine deutschen Schiffe mehr, von denen man senden konnte, und im Hafen gab es nichts mehr über das zu reden lohnte. Der beliebten Sendung war die Basis entzogen und das Hamburger Hafenkonzert wurde eingestellt.

Es dauerte bis 1947 bis Hans Bodenstedt für eine Wiedergeburt des Hafenkonzerts sorgte. Kurt Esmarch übernahm wieder die Leitung. Am 21. September 1957 platzte mitten in das Hafenkonzert die Schreckensmeldung vom Untergang der Pamir. Die Reporter zogen sofort in das Funkhaus in der Rothenbaumchaussee um und besorgten aus dem Musikarchiv Titel, die dem Ernst der Stunde angepasst waren. Sie berichteten über die Biographie des Schiffes, das noch zu den legendären Flying-P-Linern von Laeisz gehört hatte und nun 80 junge Männer mit in den Tod gerissen hatte


Hermann Rockmann leitete viele Jahre lang das Hamburger Hafenkonzert
NDR/Archiv

Als Kurt Esmarch 1964 das Ruder abgab, übernahm es Hermann Rockmann. "Rocky" leitete das Konzert bis zu seiner Pensionierung 1982. Rocky brauchte nicht viel an der Sendung zu ändern. Er hat sich ein Team von guten Leuten geholt, so daß er selbst nur noch selten moderieren mußte. Das Orchester spielte meistens im Schulauer Fährhaus und die Musikansagen wurden von den Außenmoderatoren übernommen. Beim Orchester selbst war kein Moderator. Dadurch waren flexible Entscheidungen nicht immer leicht zu treffen.

Die Marschroute, die Rockmann seinen Reportern gab, war einfach aber wirksam: Die Hörer sollen das Gefühl haben, daß ihnen Sonntagmorgens die Bugwelle direkt in die Kaffeetasse schwappt. Im übrigen sollten die Reporter nur einfach locker und recht fröhlich sein.

Nun ist das mit der Fröhlichkeit so eine Sache. Wer kann schon auf Befehl am Sonntag Morgen um sechs fröhlich sein? Also bringt man sich dann meistens gegenseitig und manchmal gewaltsam auf Touren. Da wird dann manch ein nicht sendefähiger Witz gerissen und auch während der Musik das eine oder andere Gespräch vom Vorabend fortgesetzt. Diese Übertragungen zwischen Reporter und Übertragungswagen liefen damals über Funkfrequenzen, die man auch mit einem normalen Radio in einem Umkreis um den Ü-Wagen empfangen konnte. Tatsächlich hat sich allerdings nur einmal eine Dame über die Witze beschwert. Nicht weil sie empört war, sondern weil sie alle Witze schon kannte und von den Rundfunkleuten das nächste Mal was Neues erwartete.

Daraufhin wurde strenge Funkdisziplin angeordnet.

Im Laufe der Zeit sind viele bekannte Künstler im Hafenkonzert aufgetreten. Zu jedem gäbe es die eine oder andere Geschichte zu erzählen. Da dieses jedoch ein Buch ergeben würde, hier nur eine kleine Liste von Künstlern, die im Hafenkonzert aufgetreten sind: Addi Münster, Heidi Kabel, Hans Freese, Heidi Mahler, Peggy March, Hans Albers, Lale Andersen, der Altländer Shanty Chor, Die Finkwarder Speeldeel, Knut Kiesewetter, das Medium Terzett, Peter Petrel, Polizeichor Dresden, Berlin, Hamburg.

Mittlerweile war das Hafenkonzert schon in aller Herren Länder, die Sendungen kamen aus ganz Deutschland und aus Ländern wie z.B. Österreich, Australien, China, Brasilien, Namibia und den USA.


Das Grab von Hermann Rockmann auf dem Friedhof in Hamburg Ohlsdorf
© Thorsten Totzke


Das heutige Team des Hamburger Hafenkonzerts (von links: Kerstin von Stürmer, Norman Hild, Christian Müller, Gerd Spiekermann, Anja Tangermann, Kurt Grobecker, Evelyn Seeliger, Jens Schweser, Maren Wooge, Petra Paeper, Rainer Brüggeman)
NDR/Archiv

© 2018 Thorsten Totzke